Interview Flavian Cajacob, EP 4/2019
Hans-Rudolf Winkelmann, wie sind Sie als Pensionierter dazu gekommen, in die Weiterbildung einzusteigen?
Altersarbeit und Ausbildung haben mich mein ganzes Leben lang beruflich begleitet, zuerst in angestelltem Verhältnis, später als selbständiger Berater. Mit 70 habe ich mir gesagt: So, Hansruedi, du hörst jetzt besser auf mit der Arbeit, bevor dir jemand sagt, dass du damit aufhören sollst. Ich hatte ein tolles Berufsleben, durfte viele schöne Momente erleben, deshalb wollte ich eigentlich der Gesellschaft etwas zurückgeben. Mir schwebte vor, für die Stadt Zürich, die Kirche oder eine Organisation als «Betroffener» Weiterbildung zu betreiben oder als Berater tätig zu sein.
Also auf freiwilliger Basis?
Genau. Als Fach- und Führungsperson in Sachen Altersarbeit bin ich felsenfest davon ausgegangen, dass meine Erfahrung auch nach der Pensionierung gefragt sein würde, auf Freiwilligenbasis eben, wie Sie sagen. Lebenslang erworbene Kompetenzen gehen ja nicht verloren, nur weil man nicht mehr im Erwerbsleben steht.
Was ist dann geschehen?
Nichts, rein gar nichts. Vielleicht war ich mit meiner Annahme naiv, vielleicht auch ein bisschen überheblich – auf jeden Fall hat sich keine einzige Institution bei mir gemeldet, um sich zu erkundigen, ob ich Lust hätte, mein Wissen auch weiterhin in irgendeiner Form einzubringen. Weder jene, für die ich einmal gearbeitet hatte, noch eine der Organisationen, die sich explizit mit Freiwilligenarbeit im Alter beschäftigen, sind auf die Idee gekommen, mein Know-how als direktbetroffener Senior anzuzapfen. Das hat mir zu denken gegeben.
Eine Kränkung des Egos?
In erster Linie finde ich es grundsätzlich schade, wenn Potenzial brach liegen gelassen wird. Aber Sie haben natürlich recht: Da engagierst du dich fast 40 Jahre lang in einem Bereich und dann interessiert sich von einem Tag auf den anderen plötzlich kein Mensch mehr dafür, was du eigentlich kannst – das ist tatsächlich eine Herausforderung für das Selbstwertgefühl. Senioren sollen den Herbst des Lebens geniessen, sollen wandern gehen und sich zum Kaffeekränzli oder zum Jass treffen; in etwa so stellt sich ein Teil der Gesellschaft das Pensionistendasein vor. Dass viele Männer und Frauen auch über 65 ganz einfach nicht für solch ein Dasein gemacht sind, geht leicht vergessen.
Sie geben heute Smartphone-Kurse. Also hat Sie doch jemand für sich entdeckt?
Könnte man meinen, ist aber nicht so! Meine persönliche Erfahrung: Wenn es zum Beispiel um Weiterbildung geht, so wartet niemand auf eine pensionierte Fachfrau oder einen pensionierten Fachmann, wie fit und wach die auch noch sein mögen. Ganz im Gegenteil, man wird eher als aufdringlich wahrgenommen. Selbst Alterseinrichtungen haben mein Angebot bezüglich «Smartphone-Clubs» für ältere Einsteigerinnen und Anwender abgelehnt. Letztlich war es so, dass mir meine Beharrlichkeit, meine persönlichen Beziehungen und ein aufgeschlossener Pfarrer in unserer Kirchgemeinde und eine Heimleitungskollegin in einem Alterszentrum den Weg für einen Club geebnet haben. Ich habe eine Nische gefunden, in der ich mein persönliches Faible für die technologischen Möglichkeiten der Neuzeit mit dem Bedürfnis älterer Menschen, den PC und das Smartphone als praktische Helfer einsetzen zu können, ausleben kann.
Sie geben kostenlos etwas weiter, das anderen Kursleitenden und Dozentinnen ein Einkommen sichert. Ist das fair?
Wissen Sie was? Genau diese Kritik kommt immer und auch nur dann, wenn man als Pensionierter in mehr oder weniger etablierte Bildungsbereiche vordringt. Geht es darum, einen Altersgenossen im Rollstuhl durch den Park zu schieben, hat niemand etwas gegen Freiwilligenarbeit einzuwenden. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Diejenigen Leute, die zu mir in den «Smartphone-Club» kommen, würden kaum einen gleich gelagerten Kurs an einer anerkannten Weiterbildungsinstitution buchen.
Weshalb nicht?
Weil Senioren eine sehr spezielle Zielgruppe sind. Viele Menschen im Rentenalter haben irgendwann einmal einen Beruf erlernt, den sie bis zur Pensionierung ausübten. Das Thema Weiterbildung ist kaum akut gewesen. Im Gegensatz zur heutigen Generation waren viele von uns auch gar nie gezwungen, Wissen und Können einer eingehenden Prüfung zu unterziehen und unsere Fähigkeiten laufend zu fördern. Da gibt es also grosse Vorbehalte gegenüber Kursen und Weiterbildungsangeboten, vereinzelt auch Ängste, was sich wiederum auf das Lernverhalten, das Lernumfeld und das Lerntempo auswirkt. Man muss also nicht nur ganz genau wissen, was ältere Bildungswillige überhaupt wollen und brauchen, man muss auch die gleiche Sprache sprechen. Das gilt ganz speziell in der Informatik.
Und das kann am besten, wer sich in derselben Situation befindet?
Grundsätzlich ja. Schauen Sie: Mit der Digitalisierung hat eine völlig neue Zeitrechnung angefangen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind es nicht mehr die Jungen, die von den Älteren lernen, sondern die Jungen lehren die Älteren. Das ist eine fundamentale Umkehr, auf die sich die Gesellschaft erst einmal einstellen muss. Ähnliches erleben wir im Bereich Klimawandel, bei dem sich die Älteren zu Recht von den Jungen belehren lassen müssen. Die über Jahrhunderte hinweg hoch angesehene und angestrebte Weisheit an sich verliert zusehends an Bedeutung, man kann sich ja alles irgendwie zusammengoogeln. Gleichzeitig lässt dieselbe Gesellschaft aber auch ein unglaubliches Potenzial an Wissen, Fähigkeiten und Bereitschaft ungenutzt liegen – eben jenes der Männer und Frauen im Unruhestand. Das ist nicht nur unsensibel, sondern auch fahrlässig.
Wenn man Ihnen so zuhört, spürt man das Feuer, welches die Thematik in Ihnen entfacht hat. Haben Sie auch Ideen, wie man etwas an der Situation ändern könnte?
In Deutschland bin ich einmal einem Modell begegnet, das mir auch hierzulande praktikabel und erfolgversprechend erscheint. Tritt ein Bürger oder eine Bürgerin in den Ruhestand, so meldet sich bei ihm oder ihr eine städtische «Agentur», die sich erkundigt, ob Interesse und Zeit vorhanden sei, sich weiterhin in angemessener Form in die Freiwilligenarbeit vorort einzubringen. Das kann vom sozialen Engagement bis hin zum Bildungsbeitrag gehen. Wichtig ist, dass der Einsatz den Kompetenzen entsprechend erfolgt. Der Buchhalter könnte, sofern er das noch möchte, Menschen mit finanziellen Problemen unterstützen, der Schreiner gäbe sein Handwerk weiter, die Pflegefachfrau könnte einen Beitrag in der Betreuung leisten, der erfahrene Manager würde jüngere Führungskräfte coachen und so weiter und so fort.
Klingt schön und gut. Was bedeutet dies für die Bildungsbranche?
Nicht nur die Bildungsinstitutionen, sondern die gesamte Gesellschaft sollte viel aktiver auf die Senioren zugehen, ganz nach dem Motto «Wir brauchen dich, du bist für uns wichtig». Zudem sollten einfache Strukturen geschaffen werden, innerhalb deren Pensionierte ihr Wissen weitergeben können. Ganz gezielt und kompetent natürlich, also sicher nicht im Sinne einer Beschäftigungstherapie. Aber zeitlich etwas flexibel sollte es schon sein, Sie wissen ja, wenn wir Senioren etwas nicht haben, dann ist es Zeit (lacht)!
