«Die Weiterbildung wird eine wichtige Rolle spielen beim Übergang in die Demokratie»


Seit der Präsidentschaftswahl im Sommer geht die Bevölkerung in Belarus gegen den Langzeitherrscher Lukaschenko auf die Strasse. Das Regime reagiert mit Verhaftungen und Gewalt. Auch Sasha Kuzmich, Projektleiterin beim belarussischen Dachverband der Weiterbildung, entkam den Schergen Lukaschenkos nur knapp. Im Interview erklärt sie, wie sie aus dem ukrainischen Exil weiterkämpft für Demokratie in Belarus.

Interview: Martina Fleischli, Projektleiterin International beim SVEB

Sasha, nachdem fünf deiner Freunde verhaftet wurden, bist du mit einigen anderen Freunden nach Kiew ins Exil geflohen. Wie geht es dir?
Es ist auszuhalten. Ich bin jetzt die dritte Woche in Kiew. Anfangs war ich voller Tatendrang und konnte auf ein finanzielles Polster zurückgreifen, das ich für diesen Fall angespart hatte. Doch nach einer Woche war vom Geld schon nichts mehr übrig. Es fehlte uns am Nötigsten: ein Dach über dem Kopf und Lebensmittel. Von meinem geordneten Leben in diese Unsicherheit gedrängt zu werden, war für mich eine totale Überforderung. Zudem erkrankte ich an Covid, was mich vollends blockierte.

Wie habt ihr aus dieser Situation herausgefunden?
Mit der unglaublichen Solidarität der Menschen in Kiew und von Organisationen aus Belarus. So können wir nun unsere Grundbedürfnisse wieder befriedigen. Ich persönlich habe den Kontrollverlust akzeptiert, fühle mich fitter und bin voller Zuversicht.

Wie sieht dein Arbeitsalltag jetzt aus?
Wegen der Corona-Pandemie finden die Arbeit und ein Teil der Weiterbildung ohnehin online statt. Deshalb spielt es fast keine Rolle, ob ich in Minsk oder in Kiew arbeite. Langsam entwickelt sich eine Routine. Auch privat versuche ich mit Freunden in Kontakt zu bleiben und treffe mich beispielsweise zum virtuellen Abendessen, so wie es viele auch im Corona-Lockdown tun. Der grosse Unterschied ist, dass ich mich jetzt in einer Blase befinde: Mir fehlen der Austausch und das Netzwerk. Es ist alles mit viel mehr Aufwand verbunden, und ich bekomme weniger mit, was zuhause läuft.

In Belarus ist der autoritäre Präsident Alexander Lukaschenko seit 26 Jahren an der Macht. Nach seiner Wiederwahl im August begehrten Hunderttausende auf. Warum plötzlich dieser grosse Widerstand? 
Vor den Wahlen lebten wir in einer Diktatur. Die Kontrolle der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens war normal. Jetzt leben wir in einer Militärdiktatur. Politische Gegner des Präsidenten werden ermordet, inhaftiert, vergewaltigt. Anders gesagt: Zuvor hatten wir nur einen schlechten Manager als Staatsoberhaupt, jetzt haben wir einen gewalttätigen Tyrannen. Die Unsicherheit in der Bevölkerung ist riesig: Seit Anfang August wissen die Belarussinnen und Belarussen nicht, ob sie am Abend wieder nach Hause kommen oder den Tag überleben.

Wie steht es aktuell um die Weiterbildung in Belarus? Ist daran überhaupt zu denken?
Interessanterweise erleben einige nicht profitorientierte Weiterbildungsanbieter derzeit einen Boom. Als im August Bürgerbewegungen einen Aufschwung erlebten, reagierten zahlreiche Bildungsanbieter darauf und veranstalteten beispielsweise Workshops in Civic Education in Gärten. Mittlerweile finden diese zivilgesellschaftlichen Bildungsworkshops online statt, und die Nachfrage ist immer noch gross.

Und wie geht es den kommerziellen und den öffentlichen Anbietern?
Für sie ist es im Moment sehr hart. Ihr Angebot wird nicht nachgefragt in diesen unsicheren Zeiten. Für die öffentlichen Anbieter, wie etwa die grosse Pädagogische Hochschule, ist hingegen praktisch «business as usual».  

Als ich vor zwei Jahren Vertreterinnen und Vertreter von Weiterbildungsanbietern in Belarus traf, war ich begeistert von ihrem grossen Engagement und der hohen Professionalität. Unser gemeinsames Projekt zielt unter anderem darauf ab, die Qualität in der Weiterbildung weiter zu verbessern. Welche Rolle spielt die Qualitätsentwicklung und -sicherung im aktuellen Kontext?
Die Qualität in der Weiterbildung ist für uns als Dachverband wichtig, um zwei Probleme anzugehen. Wir haben in Belarus bereits ein qualitativ hochwertiges Weiterbildungsangebot; Die Kursleitenden sind professionell, und die Bildungsinhalte sind relevant und entsprechen einem realen Bedarf. Ein Problem ist jedoch das Marketing: Viele Anbieter wissen nicht, wie sie ihr Angebot bekannt machen und im Markt positionieren können.

Und das zweite Problem?
Das zweite Problem ist die Qualität von Online-Bildungsangeboten. Wie erwähnt, gibt es einen Boom an Online-Angeboten. Viele Anbieter sind bei der Umsetzung jedoch überfordert. ALLLE als Dachverband unterstützt die Anbieter in diesem Transformationsprozess.

Es ist tiefer Winter in Belarus. Welche Situation erhoffst du dir für das Land und für die Weiterbildung bis im Sommer?
Ich bin optimistisch, dass mit dem Schnee auch die Gewaltherrschaft im Land dahinschmilzt. Ich erwarte einen Übergang in eine Demokratie. Damit einhergehend wird eine Marktöffnung stattfinden, und es wird mehr Investitionen und Wettbewerb geben – auch für die Weiterbildung. Bis anhin agieren die Anbieter hierzulande in ihren kleinen Nischen. Mit der Marktöffnung hätten die Anbieter Zugang zu einem viel grösseren Markt. Sie sollten sich also auf die zunehmende Konkurrenz vorbereiten und ihre qualitativ hochwertigen Bildungsangebote verkaufen können.

Kann die Weiterbildung auch demokratiefördernd wirken?
Auf jeden Fall. Der Aufschwung der Civic Education wird sicher andauern. Gerade in diesem Bereich wird die Weiterbildung eine wichtige Rolle spielen beim Übergang in die Demokratie. Sie wird ein fester Bestandteil des Lebens der Belarussen und Belarussinnen sein.

Civic Education

Wörtlich übersetzt bedeutet «Civic Education» etwa soviel wie zivilgesellschaftliche Bildung oder BürgerInnen-Bildung. Das Bildungsmodell aus dem angelsächsischen Raum hat zum Ziel, dass die Bürgerinnen und Bürger zivilgesellschaftliche Kompetenzen aufbauen, also lernen, sich in einer demokratischen Gesellschaft einzubringen.

Informationen zum Projekt: Qualitätssicherung und -entwicklung in Belarus

Das Weiterbildungssystem in Belarus ist stark fragmentiert, auf die städtischen Zentren konzentriert, und es herrscht wenig Vergleichbarkeit zwischen den Angeboten. Der Dachverband der Weiterbildung in Belarus, die Association of Life-Long Learning and Enlightenment (ALLLE), möchte dies ändern und die Qualitätssicherung und -entwicklung vorantreiben. Der SVEB steht dabei beratend zur Seite.

Ziele und Massnahmen 2017–2020

  • ALLLE entwickelt mit seinen Mitgliedern einen Qualitätsrahmen in der Weiterbildung
  • ALLLE etabliert sich zum Kompetenzzentrum der Weiterbildung sowie der Qualitätssicherung und -entwicklung
  • Mittelfristig trägt die Zusammenarbeit zur Verbesserung der Qualität der Weiterbildungsangebote und zur Stärkung der Zivilgesellschaft bei

Ab 2021 wird nebst dem Qualitätssystem verstärkt auch die Ausbildung der Ausbildenden in Belarus gefördert. Das Projekt wird durch das Schweizer Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) unterstützt.