Digitaler Unterricht: Gut oder nur gut genug?


Die diesjährige Qualitätstagung des SVEB fand online statt und beschäftigte sich mit der Qualität des Online-Unterrichts. So spiegelte sich das Gesagte oft gleich im Erlebten. Protokoll eines aussergewöhnlichen Anlasses in aussergewöhnlichen Zeiten.

von Thomas Mäder

«Auf Wiedersehen und gute …», setzt Ueli Bürgi zum Schluss der Tagung an. Das Wort «Heimreise» ist ihm schon fast über die Lippen, da korrigiert sich der Leiter Qualität in der Weiterbildung beim SVEB: «… guten Abend noch.»

Die sogenannte neue Realität, in der eine Qualitätstagung nicht in einem vollen Saal in Bern sondern aus dem (Heim-)Büro heraus im virtuellen Raum stattfindet, sie ist noch nicht in unsere Gewohnheiten eingeflossen. Immer wieder zeigt sich an diesem Spätherbstnachmittag, woran man sich gewöhnen muss bei Online-Veranstaltungen. Aufgrund der hohen Corona-Fallzahlen in der Schweiz hatte sich der SVEB drei Wochen zuvor entschieden, den Anlass statt in der Berner Eventfabrik im virtuellen Raum via das Videokonferenz-Tool Zoom stattfinden zu lassen. Kurz nach dem Mittag finden sich rund 100 Personen im digitalen Veranstaltungslokal ein, um in drei Workshops über Qualität des Online-Unterrichtens zu diskutieren: auf Ebene der Organisation, des Angebots und des Qualitätssystems. Nach einer kurzen Einleitung von Ueli Bürgi erfolgt der Wechsel in den ersten Workshop.

Präsenz-Didaktik aufs Online-Unterrichten übertragen

Plötzlich füllt eine mir unbekannte Frau meinen Bildschirm, scheint mir direkt in die Augen zu schauen aus dem Browserfenster heraus. Will sie etwas von mir? Und eben: Wer ist das überhaupt? Dann ein wenig Erleichterung, als ich den Namen der Fremden in ihrem Videofenster entdecke: Claudia Bremer, die erste Referentin.

Claudia Bremer ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft; sie beschäftigt sich mit Konzeption, Beratung und Betreuung von eLearning- und Blended-Learning-Veranstaltungen – bis vor kurzem an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Oft würden die gleichen Qualitätskriterien wie für den Präsenzunterricht gelten, hält Bremer fest. Das gelte auch für die Kursleitenden: «Vieles, was an didaktischem Wissen nötig ist, kann aufs Online-Lernen übertragen werden», meint sie in ihrer Präsentation. Später in der Tagung geht Bremer dann sogar noch weiter, wenn sie ihre Beobachtung festhält, dass beim Umstellen auf Online-Unterricht an Hochschulen oft überhaupt erst über Didaktik gesprochen werde.

Es folgt die Diskussion in Breakout-Sessions: virtuellen Kleingruppen. Später wird jemand im Chat fragen: «Was ist eine Breakout-Session?» Das Vokabular für Zoom und Co.: Es ist für viele noch neu. Die Erkenntnisse aus den Kleingruppendiskussionen landen auf Padlets, einer Art digitalem Pendant zu Flipcharts oder Moderationskärtchen, die man aufhängt – sofort für alle sichtbar und digital verfügbar. Kurze Zusammenfassung dazu von der Expertin, dann geht’s weiter in den nächsten Workshop.

Tücken der Technik

In einem realen Setting würde ich jetzt einen kurzen Blick in die Runde werfen, unsicher, ob ich richtig verstanden habe, dass ich im gleichen Raum bleiben kann für den nächsten Workshop, dann aufschnappen, wie jemand anders genau diese Frage seinem Nachbarn stellt, wie dieser versichert, ja, man sei im richtigen Raum, mich entspannen, einen Kaffee holen. Hier stattdessen: Wechselnde Sprecher im grossen Fenster, organisatorische Diskussionen, die jeder mitbekommt: «Haben Sie die Breakout-Sessions schon eingerichtet?», «Kann ich schon anfangen?», «Ich gebe Ihnen gleich den Host.»

Im zweiten Workshop, es geht jetzt um die Ebene des Angebots, heisst der Experte Markus Dormann, Professor an der Fernfachhochschule (FFHS) Brig. Wenn sich jemand mit Blended Learning, also der Verwebung von Präsenzveranstaltung und digitalem Unterricht, auskennt, dann eine Fernfachhochschule. Vor den Tücken der Technik ist aber auch Dormann nicht gefeit. «Ist der Ton an?» fragt er, als er sein Einleitungsvideo zeigt – einen Werbespot der FFHS, in dem Snowboard-Olympiasieger Nevin Galmarini erzählt, wie er mit dem Fernstudium Spitzensport und Weiterbildung unter einen Hut bringt. Der Ton fehlt, die Rückmeldung aus dem Publikum kommt postwendend im Chat. Zweiter Versuch, diesmal ist der Ton da.

In seiner Präsentation zeigt Dormann: Zum didaktischen und inhaltlichen Wissen der Lehrperson kommt im digitalen Setting das nötige technische Wissen hinzu. Das Anwender-Know-how erwähnt er später auch bei einer Auflistung der Vor- und Nachteile des Online-Lernens. Konkrete Nachteile sind ihm zufolge eine kürzere Aufmerksamkeitskurve und grössere Ablenkungsmöglichkeiten (Warum nicht rasch die Mails checken?). Dem stehen etwa die Flexibilität und Ortsunabhängigkeit des Lernens gegenüber, von denen beispielsweise Profisportler Galmarini profitiert. Dormann betont: «Die Vor- und Nachteile der Lernform sind stark kontextabhängig.» Das zeigt sich im Lauf dieser Tagung immer wieder: Es lässt sich kaum verallgemeinern, ob nun Online- oder Präsenzlernen qualitativ besser ist – und die beiden Formen gegeneinander auszuspielen, erscheint erst recht nicht zielführend.

Schliesslich wieder so ein Moment, in dem Best Practice und die gerade erlebte Realität einer Online-Tagung nicht so recht zusammengehen: Dormann betont, wie wichtig es sei, dass die Teilnehmenden ihr Video eingeschaltet haben und spricht über Möglichkeiten, sie dazu zu motivieren. Der Blick in die virtuelle Runde im Workshop zeigt hingegen nur schwarze Bildschirme, auf denen der Name der jeweiligen Person prangt.

Der Blick, den ich jetzt auf die Uhr werfe, wäre normalerweise auch ein nonverbales Signal an den Dozierenden, dass er nun doch schon einige Minuten überzogen hat und mein Organismus dringend nach Koffein verlangt. Als er dann nach fünf Minuten Überzeit noch eine weitere Frage erlaubt, laufe ich einfach vom Bildschirm davon Richtung Küche. Sieht ja keiner.

Spezifische Qualitätskriterien für Online-Unterricht?

Nach der Pause – ohne die sonst üblichen Pausengespräche – folgen die letzten zwei Vorträge des Nachmittags. Angekündigt sind zwei kontroverse Kurzreferate zur Frage, ob es fürs Online-Lernen spezifische Qualitätskriterien und -indikatoren braucht – eine Frage, die auch von Relevanz ist für die laufende Revision der eduQua-Norm. Ganz so weit auseinander liegen dann die Meinungen der zwei Experten aber gar nicht. Olivier Marro vom Dienst für Weiterbildung des Kantons Genf neigt eher zu spezifischen Qualitätskriterien; Dr. Christoph Grolimund von der Schweizerischen Agentur für Akkreditierung und Qualitätssicherung (AAQ) beginnt sein Referat zwar mit einer dezidierten Absage an solche «Online-Normen», weicht sein «Nein» aber bald auf in ein «Im Prinzip nein»: Zwar solle man ja nicht zu starre Kriterien definieren; die Anbieter von Online-Lernangeboten könnten aber für die spezifischen Herausforderungen dieser Lernform sensibilisiert werden mit Empfehlungen oder Vorgaben zur internen Qualitätssicherung.

Es zeigte sich auch hier wieder: Trivial ist die Unterscheidung zwischen Online- und Präsenzunterricht nicht – nicht bei den Vor- und Nachteilen, nicht bei der Frage nach der Qualität des Angebots. Deshalb ist vielleicht dasjenige Qualitätskriterium das stärkste, das SVEB-Direktor Bernhard Grämiger in seinem Schlusswort festhält: «Am Ende müssen immer die Teilnehmenden und ihre Bedürfnisse im Zentrum des Angebots stehen.» Dann ist die Tagung fertig: «Auf Wiedersehen und gute … guten Abend noch.»

Ich stelle den Computer ab, öffne die Bürotür und bin, wo ich eigentlich die ganze Zeit war: zu Hause. War ich gerade wirklich an einer Tagung? Ganz sicher bin ich mir irgendwie nicht.