Kann Poesie den Zugang zur Sprache erleichtern? Das EU-Projekt POETA will genau dies beweisen. Wie es funktioniert, erläutert Kajo Wintzen, der am Projekt und auch an einem Workshop des SVEB mitarbeitet.
Herr Wintzen, können Sie in wenigen Worten erklären, was der poesiepädagogische Ansatz ist?
Mit einem erweiterten Verständnis von Poesie können sich poesiepädagogische Ansätze über den Bezug zur Lyrik hinaus zum Beispiel auf der Bildebene, in der Bewegung, im Tanz, über die Musik, den Film, die Street Art und in Begegnungen mit einer «Poesie des Alltags» entfalten. Diese unterschiedlichen Zugänge können Impulse zur Öffnung für poetische Selbsterfahrungen und zur Teilhabe an den schönen Künsten bieten. Und sie öffnen vor allem zur angstfreien und freudvollen Schrifterfahrung und damit für einen Zugang zur Schrift.
Wie setzt man diesen Ansatz in der Praxis um? Können Sie uns ein Beispiel aufzeigen?
Eine Schreibgruppe setzt sich mit ihrer Angst wegen des Krieges in der Ukraine auseinander. Sie suchen nach Möglichkeiten des Ausdrucks. Die Anfangs- und Endzeilen des Gedichtes «Rezept» von Mascha Kaléko werden als Klammer für die Zeit der gemeinsamen Entfaltung des Themas gewählt: «Jage die Ängste fort / Und die Angst vor den Ängsten», empfiehlt die Dichterin. Die Gruppe malt Friedensplakate mit ihren Friedenssymbolen, und sie sammeln Friedensworte und Situationen, die für sie friedvoll sind. Es entstehen weitere Schreibanlässe, die zum Beispiel über einen Liedtext eingebracht werden, den eine Lernerin vorstellt. Die Gruppe fragt nach den Wundern, die geschehen müssen, um eine Welt des Friedens vorfinden zu können. Sie kreieren Wortschöpfungen, die sie auf einer Collage in einen «Wunderbaum» eintragen. Gerne nehmen sie zum Ende ihrer gemeinsamen Arbeit die Worte der Dichterin «Sei klug / Und halte dich an Wunder» zu sich.
Welche Kompetenzen sind bei den Ausbildenden zentral, die mit der Poesiepädagogik arbeiten möchten?
Wesentlich bei den Ausbildenden ist eine ressourcenorientierte und wertschätzende Haltung. Im Sinne von Paulo Freire wird mit den Menschen in den Lerngelegenheiten in einem gleichberechtigten Dialog gearbeitet. Wichtig dabei sind die Themen der Menschen, aus denen die Worte und der Schriftzugang entwickelt werden können. Die poetischen Vorlagen inspirieren dazu in besonderer Weise.
Dieser Ansatz richtet sich auch sehr stark an Personen, die Mühe haben mit Grundkompetenzen. Was gilt es zu beachten, wenn man mit dieser spezifischen Zielgruppe arbeiten möchte?
Die Mitteilungsmöglichkeiten vor der Schrift sind für die adressierten Menschen von grosser Bedeutung. Über Bilder kann gesprochen werden, und auf der Bildebene, zum Beispiel mit Collagen, ist es möglich, sich auszudrücken. Die Wortebene entfaltet sich nach und nach je nach den individuellen Möglichkeiten. Oftmals finden die Lernenden über die Lyrics ihrer Lieblingslieder Zugang zu Texten und überdies zum Sprachrhythmus. Zudem dürfen zum Beispiel die Worte eines Gedichtes im Sinne von Hilde Domin als «magische Gebrauchsartikel» benutzt werden.
Sie haben in Ihrer Bildungsarbeit auch schon mit diesem Ansatz gearbeitet. Können Sie von einem unvergesslichen Erlebnis erzählen?
In der Begegnung mit dem Wort der Dichterin und des Dichters haben viele Menschen, die ich auf dem Weg zur Schrift begleitet habe, sehr stärkende und auch sehr heilsame Erfahrungen gemacht. Ich denke an eine Marktfrau, die mit Anna Wimschneider, der Autorin von «Herbstmilch», einen Briefwechsel führte. Ich denke an einen Gastwirt, der sich in das Gedicht «Späte Willensfreiheit» von Erich Fried hineinschrieb. Und ich denke an eine junge Frau, die erfahren hatte, wie durch die Worte eines Gedichtes traurige oder fröhliche Gedanken zu ihr kommen, sie an der Hand nehmen und sie tragen.
Wie kommt eine Lernsequenz mit dem poesiepädagogischen Ansatz bei den Teilnehmenden an? Welche Rückmeldungen erhalten Sie?
Nach meinem Verständnis bieten poesiepädagogische Ansätze ein grundsätzliches Prinzip der Welt- und Schrifterfahrung und sind nicht auf Lernsequenzen zu reduzieren. Die Menschen finden über diese Methode zum Beispiel zu ihrem Recht auf die Anwendung von Metaphern und zu ihrem Recht auf Poesie im erweiterten Sinne. Wenn sie Gebrauch davon machen, so finden sie weit mehr als einen Weg zur Schrift: Sie sprechen von einem Nachlassen ihrer Lebensängste, von einem gestärkten Selbstbewusstsein, von der Erweiterung ihres kleinen, nur mit dem Fahrrad erreichbaren Lebensraumes, von der Teilhabe an Gesprächen, die sie zuvor nur stumm verfolgten, und nicht selten von einer Wiedergeburt, einem neuen Leben.
Am 30. August findet auch in der Schweiz ein Workshop statt zum poesiepädagogischen Ansatz. Sie werden diesen Workshop mitgestalten. Was können die Teilnehmenden vom Anlass erwarten?
Der Workshop wird Erfahrungsräume für die Poesie im erweiterten Sinne öffnen. In der Begegnung mit poetischen Impulsen können die Teilnehmenden ihre Erfahrungen miteinander teilen. Methoden poesiepädagogischer Ansätze werden auf der Ebene des Workshops gespiegelt und können erlebt und diskutiert werden. Dazu dienen zum Beispiel ein «Impulsfilm» zum Thema Wertschätzung, kreative Schreibanregungen mit Bezug zu Gedichten sowie Gespräche über die Wirksamkeit beispielhafter poetischer Vorlagen in unterschiedlichen Lernsettings.
Kajo Wintzen ist interkultureller Mediator, Mitglied der Kommission Interkulturalität der Katholischen Erwachsenenbildung Deutschland und Mitglied des Konzeptionsbeirates der Evangelischen Fachstelle Grundbildung und Alphabetisierung sowie Autor von Fachpublikationen. Er hat für die KEB Rheinland-Pfalz im Projekt POETA massgeblich am MOOC und E-Book mitgearbeitet.