Falk Scheidig

«In den technologischen Entwicklungen ist eher eine Chance als eine Herausforderung zu sehen»


Der SVEB-Branchenmonitor 2023 zeigte, dass die notwendige Kompetenzerweiterung der Ausbildenden die Anbieter vor grosse Herausforderungen stellt. Falk Scheidig, Professor für lebenslanges Lernen an der Ruhr-Universität in Bochum, erklärt, wie die Digitalisierung das Weiterbildungsfeld bewegt und welcher Handlungsbedarf dadurch für die Weiterbildungsorganisationen entsteht. 

Interview: Saambavi Poopalapillai 

Sie sagen, dass es im Zuge der Corona-Pandemie zu einer Kompetenzerweiterung beim gesamten Bildungspersonal kam. Können Sie uns das erläutern? 
Die Pandemie bot vielen Einrichtungen (unfreiwillig) Gelegenheit, Online-Angebote auszuprobieren. Sie war also für die Weiterbildungsbranche selbst ein unverhoffter Lernanlass. Das Weiterbildungspersonal war in verschiedener Weise hiervon berührt. Zum Beispiel wurden Kurse per Videokonferenz und mittels Lernplattformen durchgeführt. Die Software musste teilweise aber erst beschafft und konfiguriert werden. Teilnehmende und Kursleitende mussten beim Einsatz digitaler Tools unterstützt werden. Neben Kursen fand auch die Zusammenarbeit bei Weiterbildungsanbietern sowie die Beratung von (potentiellen) Teilnehmenden häufiger auf Distanz und dadurch technikvermittelt statt. Dies erforderte eine Auseinandersetzung mit Hard- und Software und deren Nutzung – nicht nur aufseiten der Kursleitenden. In den Fokus rücken aber nicht nur die Kenntnis und kompetente Anwendung von Technik. Auch ein reflexiver Umgang mit technologischen Entwicklungen ist erforderlich, etwa mit Blick auf Implikationen für das Lernen Erwachsener, die soziokulturelle Wirkung auf Adressatinnen und Adressaten von Weiterbildung und die Rolle des Bildungspersonals in digitalen Lernkontexten. 

Der SVEB-Branchenmonitor zeigt: Die notwendige Kompetenzerweiterung der Ausbildenden fordert die Anbieter heraus. Wo sehen Sie Handlungsbedarf bei den Weiterbildungsorganisationen?  
Angesichts der Pluralität des Weiterbildungsfeldes ist von variierenden institutionellen Bedarfslagen auszugehen. Generell lässt sich aber als Zielbild formulieren: Weiterbildungsorganisationen sollten darauf hinwirken, dass eine Kompetenzerweiterung des Personals in Entsprechung zu aktuellen Entwicklungsperspektiven ermöglicht und unterstützt, aber auch angeregt wird. Dies setzt allerdings voraus, dass bedarfsgerechte Angebote bestehen oder entwickelt werden und neben den erforderlichen Rahmenbedingungen für ihre Inanspruchnahme auch das Bewusstsein für deren Relevanz beim Weiterbildungspersonal vorhanden ist – oder gestärkt wird. 

Heute sind die Anbieter mit einer neuen Herausforderung konfrontiert: der künstlichen Intelligenz. Insbesondere die Einbettung von generativen KI-Tools in die Lern- beziehungsweise Lehr-Settings bringt viele Unsicherheiten mit sich. Wie sieht also die nächste Welle der Kompetenzverschiebung aus, die mit den KI-Tools einhergeht? 
Angesichts der Dynamik der Entwicklungen in diesem Feld fällt es nicht leicht, den Überblick zu behalten. Gleichwohl ist in diesen technologischen Entwicklungen eher eine Chance als eine Herausforderung zu sehen. Ausgehend von der Perspektive, dass Digitalisierung nicht etwas ist, dem man ausgesetzt ist, sondern etwas, das man gestalten und sich zu Nutze machen kann, sollten die Möglichkeiten von KI-Tools erschlossen werden. KI-Tools könnten beispielsweise beim Generieren von Lernressourcen zum Einsatz kommen, etwa der Erstellung von Aufgaben oder Lernvideos unterschiedlicher Niveaustufen, aber auch als virtueller Lernpartner. Berechtigterweise wird auf Limitationen und Risiken von generativen KI-Tools hingewiesen, jedoch dürften mit der zunehmenden Nutzung auch Weiterentwicklungen wie eine gesteigerte Leistungsfähigkeit von KI-Tools und eine Erweiterung des Funktions- und möglichen Einsatzspektrums einhergehen. Eine Abschätzung der Möglichkeiten erfordert eine aktive Auseinandersetzung mit KI-Tools und kann vom Austausch mit anderen Bildungsorganisationen profitieren. Es kann als grundlegende Anforderung an das Weiterbildungspersonal verstanden werden, Veränderungen und neue Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen und auf ihre Potentiale hin zu befragen. Diejenigen, die das Lernen Erwachsener ermöglichen und begleiten, waren schon immer selbst auch als Lernende gefragt. Der Weiterbildungsbereich ist auch deshalb gefordert, mit den Entwicklungen Schritt zu halten, weil er nicht nur selbst betroffen ist, sondern auch durch die Bereitstellung von zeitgemässen Bildungsangeboten einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe in einer zunehmenden digitalen Lebens- und Arbeitswelt leistet. Dies umschliesst nicht nur den Erwerb von Kompetenzen in der Nutzung neuer Technologie, sondern auch die kritische Reflexion mit Blick auf individuelle und gesellschaftliche Folgen. 

Im Zuge der Digitalisierung in der Weiterbildung, wozu auch sogenannte Learning Analytics zählen, ergeben sich neue Möglichkeiten. Welche Möglichkeiten der Datenverarbeitung erkennen Sie für Weiterbildungsorganisationen?  
Die Nutzung von Daten kann auf verschiedenen Ebenen relevante Informationen liefern: bei der Begleitung von Lernenden ebenso wie beim Treffen organisationaler Entscheidungen. Beispielsweise gewähren Daten von Lernplattformen Einblicke in das Lernverhalten, auf deren Basis individuelles Feedback, bedarfsgerechte Unterstützungsangebote und personalisierte Lernressourcen bereitgestellt oder die Lernumgebung und -inhalte weiterentwickelt werden können. Auf übergeordneter Programmebene können Daten etwa helfen, das Teilnahmeverhalten zu verstehen, zum Beispiel anhand von Daten zur Kursbelegung Muster zu erkennen – welche Personengruppen werden mit welchen Angeboten (nicht) erreicht? Mit der zunehmenden Digitalisierung auch im Weiterbildungsbereich wird die Datenverfügbarkeit zunehmen. Weiterbildungsorganisationen sollten sich im Sinne einer «Dateninventur» vergewissern, welche Daten sie generieren oder verarbeiten und welche Potentiale diese Daten besitzen. Dies kann nicht nur dazu beitragen, Daten zum Zwecke der Erreichung verschiedener Zwecke gezielt zu analysieren, sondern auch die Sensibilität für den Stellenwert von Daten, Datenschutz und -sicherheit stärken und den kompetenten und kritisch-reflexiven Umgang mit Daten in Weiterbildungsorganisationen befördern.  

Selbstlernprogramme und auch die Digitalisierung werden selbstständiges Lernen ermöglichen und vereinfachen. Braucht es immer weniger Ausbildende? 
Man kann und sollte auch die Gestaltung von Selbstlernumgebungen für Erwachsene als eine erwachsenenpädagogische Tätigkeit betrachten. Aber dessen ungeachtet: Selbstlernumgebungen werden etablierten Erwachsenenbildungsangeboten auf absehbare Zeit nicht den Rang ablaufen. Die Wahl von Bildungsangeboten ist eine Frage individueller und situativer Passung. Insbesondere die Entwicklungen seit der Corona-Pandemie lassen annehmen, dass digitale Elemente zunehmend das Lernen Erwachsener durchdringen, dabei in vielen Fällen aber eher Präsenzangebote ergänzen und anreichern, anstatt diese zu ersetzen. Der Hype um MOOCs (Massive Open Online Courses) in den 2010er Jahren, der abebbte, da unter anderem Absolventinnen- und Absolventenquoten hinter Erwartungen zurückblieben, verweist auf Herausforderungen von Selbstlernangeboten. Sie ermöglichen zwar raum-zeitliche Flexibilität und können barrierefreier als analoge Angebote sein, erfordern aber auch Selbstlernkompetenzen und gehen oft mit geringem Kontakt zu anderen Lernenden einher. Digitale Selbstlernangebote entwickeln sich weiter und könnten an Stellenwert gewinnen, aber aktuell finden sich keine Hinweise auf eine breite Ablösung konventioneller Bildungsangebote. Offenbar bevorzugen viele Erwachsene trotz oder wegen der Erfahrungen mit Online-Angeboten in der Corona-Pandemie Angebote, die ganz oder teilweise in physischer Co-Präsenz stattfinden, gegenüber reinen Online-Angeboten. Insofern ist keine Reduktion beim Weiterbildungspersonal zu erwarten. Vielmehr ist aufgrund der digitalen Durchdringung und digitalen Erweiterung von Weiterbildungsangeboten anzunehmen, dass digitale Kompetenzanforderungen an das Weiterbildungspersonal weiter an Bedeutung gewinnen werden, zum Beispiel in Bezug auf eine qualitätsvolle Verbindung von Präsenzangeboten mit digitalen Elementen oder Online-Phasen. 

Wir werden häufig von verschiedenen Seiten angefragt für eine Einschätzung zur Zukunft der Weiterbildung. Die Frage auch an Sie: Wie sehen Sie die Weiterbildung von morgen? 
Die Weiterbildung dürfte weiter an Stellenwert gewinnen, denn das lebenslange Lernen ist sowohl Antrieb als auch Folge gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, deren Rasanz zunimmt und uns vor viele Herausforderungen stellt. Immer dynamischere Entwicklungen in vielen Lebensbereichen befördern die Notwendigkeit des Lernens im Kontinuum des Lebens. In der Berufswelt etwa führt die Digitalisierung branchenübergreifend zu neuen Kompetenzanforderungen und mitunter veränderten Berufsprofilen, die Anpassungsqualifizierungen erfordern. Sowohl die langfristige Entwicklung der Weiterbildungsbeteiligung als auch die wieder steigende Nachfrage nach Weiterbildung nach dem Corona-Tief bestärken die Annahme einer Expansion des Weiterbildungssektors. Dies führt hoffentlich zu mehr gesellschaftlicher Sichtbarkeit sowie öffentlicher Finanzierung und Anerkennung. Eine mögliche Perspektive ist aber auch, dass noch mehr international agierende Unternehmen in den Bildungsmarkt eintreten und die Konkurrenzsituation verschärfen könnten, zumal die steigende Anzahl von Online-Angeboten zu einer Entlokalisierung beitragen. Dies dürfte Weiterbildungsorganisationen strategische Entscheidungen mit Blick auf die Positionierung im Anbieterspektrum abverlangen, gerade auch angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung sowohl der Inhaltsbereiche als auch der Angebotsformen (hybrid, blended, online synchron, asynchron…). Die Entwicklung des Weiterbildungssektors stellt so gesehen Anforderungen an die Entwicklungsfähigkeit der Weiterbildungsorganisationen. 

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