Vier Erwachsene unterhalten sich gemeinsam auf dem Campus der PH Zürich, wobei Weiterbildungsanbieter zunehmend den Pfad der personalisierten bzw. individualisierten Weiterbildung einschlagen.

Individualisierte Weiterbildung – ein neuer Begriff für ein altes Anliegen


Weiterbildungsanbieter beschreiten immer häufiger den Pfad individualisierter und personalisierter Angebote. Zwar steht dies durchaus in der Tradition einer subjektorientierten Weiterbildung. Die technologischen Möglichkeiten haben jedoch neue Dimensionen eröffnet. Dennoch ist die Tendenz nicht unproblematisch.

Autor: Ronald Schenkel

Ein Zauberwort geht um in der Weiterbildung: Individualisierung. Im Zuge der Corona-Pandemie und des damit verbundenen Digitalisierungsschubs taucht der Begriff in vielen Programmen von Weiterbildungsanbietern auf. Er verspricht auf individuelle Bedürfnisse hin massgeschneiderte Angebote. Er scheint aber auch einer zunehmend individuell gestalteten Lebensweise zu entsprechen. Er passt ausgezeichnet zur Flexibilisierung von Lebensphasen. Er scheint zudem die richtige Antwort auf häufigere berufliche Veränderungen zu sein, die nicht zuletzt aufgrund der technologischen Entwicklung erforderlich werden.

Weiterbildung als Seismograph

Tatsächlich nimmt die Weiterbildung gesellschaftliche Entwicklungen auf und macht sie durch Bildung bearbeitbar. Weiterbildungsforschende wie Katrin Kraus, Professorin an der Universität Zürich, sprechen deshalb von Erwachsenen- und Weiterbildung als Seismograph, der zu verstehen hilft, in welcher Zeit wir leben. Dass der Individualisierungsbegriff gerade jetzt, nach der Pandemie, derart populär wird, sollte denn nicht nur als Modeerscheinung abgetan werden.

Zwar ist Individualisierung kein genuiner Begriff der Erwachsenen- und Weiterbildung. Gleichzeitig sind entsprechende Konzepte längst schon Bestandteil der Bildungsarbeit für Erwachsene. Teilnehmer- und Lebensweltorientierung prägen die Erwachsenenbildung schon seit langem. Die Digitalisierung der Angebote hat jedoch zweifellos das Potenzial, eine neue Stufe der Subjektorientierung zu ermöglichen. Allerdings handelt es sich dabei in erster Linie um eine zeitliche und räumliche Flexibilisierung. Doch es treten vermehrt auch Anbieter auf, die inhaltlich individualisierte Angebote zu machen versprechen; in der Berufsbildung etwa dadurch, dass die Teilnehmenden der Lehrgänge und Kurse eigene authentische Fallbeispiele einbringen und behandeln können.

Die technologischen Möglichkeiten etwa im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz und Datenauswertung scheinen ebenfalls – zumindest theoretisch ­– die zunehmende Individualisierung und Personalisierung des Lernens zu fördern. Learning Analytics beispielsweise versprechen ein tieferes Verständnis sowie die Optimierung von Lernumgebungen und -prozessen. In der Praxis der Weiterbildung jedoch scheinen sie noch keine wesentliche Rolle zu spielen.

Die Kehrseite

Individualisierung in der Erwachsenen- und Weiterbildung ist durchaus positiv zu sehen, eben weil sie auch in der Tradition der Subjektorientierung steht. Sie hat aber auch, wie Erik Haberzeth, Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich, hervorhebt, eine Kehrseite. Die auf digitalen Technologien beruhende Individualisierung von Angeboten geht einher mit einer Reduktion von Präsenzunterricht. Auch wird das Selbstlernen stärker betont. Die Gefahr ist nicht unerheblich, dass dies als Sparmethode genutzt wird. Insbesondere Arbeitgeber haben ein grosses Interesse, ihre Mitarbeitenden nicht zu lange in Weiterbildungen zu schicken, weshalb grössere Anteile des Selbststudiums ihnen entgegenkommen.

Es stellt sich aber auch die Frage, wie weit Individualisierung auf Kosten eines Curriculums vorangetrieben werden kann. Eine individualisierte Weiterbildung setzt nicht nur neue Strukturen bei den Angeboten voraus, etwa frei kombinierbare, modulare Bausteine. Es muss auch die Anerkennung dieser Weiterbildungsangebote sichergestellt werden, was mitunter den Einbezug verschiedener Stakeholder wie Berufsverbände oder staatliche Instanzen verlangt.

Neue Aufgaben der Anbieter

Wer sich individuell, das heisst frei und ausserhalb starrer Leitplanken weiterbilden will, muss zudem nicht allein über Wahlmöglichkeiten verfügen, sondern auch wissen, worum es sich bei den Angeboten handelt. Lernberatung und Lernbegleitung werden deshalb zunehmend wichtige Aufgaben der Weiterbildungsanbieter. Diese Leistungen aber erfordern wiederum entsprechende Kompetenzen beim Weiterbildungspersonal. Und sie müssen finanziert werden.

Im Verlauf der Corona-Pandemie haben Kursleitende festgestellt, dass sich ihre Tätigkeit teilweise stärker auf diese Ebene hin verschiebt – ohne, dass sie dafür ausgebildet oder entschädigt worden wären. Und die zunehmende individuelle Begleitung von Lernprozessen gerade durch die Auflösung des räumlichen und zeitlichen Rahmens wurde mitunter auch als belastend empfunden.

Didaktische Anforderungen

Gerade die didaktischen Anforderungen seien nicht zu unterschätzen, betont Erik Haberzeth. Will man beispielsweise, dass sich die Lernenden in einem Blended-Learning-Setting vorbereiten, muss man gute Aufträge erteilen, die die Teilnehmenden verstehen und attraktiv finden. Ausbildende müssen zudem vermehrt Inhalte produzieren. Insgesamt werden die professionellen Anforderungen vielfältiger und anspruchsvoller.

Weiterbildungsanbieter, die Individualisierung denn nicht allein als Marketinginstrument verwenden, stehen in vielerlei Hinsicht vor Herausforderungen sowohl organisatorischer, struktureller und personeller Natur. Und nicht zuletzt dürfte Individualisierung von Angeboten diese – wenn sie denn halten, was sie versprechen – eher verteuern.

Schliesslich muss man wohl auch anerkennen, dass Individualisierung nicht die Lösung für jeden und jede ist. Nicht jeder, so sagt Erik Haberzeth, will und kann die Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen. Das habe aber nichts mit fehlender Intelligenz zu tun, sondern damit, wie man sozialisiert wurde. Bildungsnahe Schichten mögen mit dieser schönen neuen individuellen Bildungswelt etwas anzufangen wissen. Bei weniger bildungsgewohnten Personen kann sie als fremde, ja gar unzugängliche Welt eher Ängste auslösen.

Bild: PHZH