Ein neuartiger Qualifikationsnachweis auf dem Prüfstand


Mit Micro-Credentials wird erfasst, was in kurzen Lerneinheiten oder informell gelernt wird. Der Schweizerische Verband für Weiterbildung (SVEB) sieht darin viel Potenzial und prüft, ob und wie dieses Instrument in der Schweiz genutzt werden könnte, sagt SVEB-Präsident Matthias Aebischer.

Interview: Andreas Minder

Was sind Micro-Credentials?
«Kurz gesagt sind Micro-Credentials eine Form des Qualifikationsnachweises für kleine Lerneinheiten. Zurzeit entwickelt sich das Angebot national wie global, aber eine gemeinsame Definition existiert noch nicht. Einige Institutionen vergeben Micro-Credentials für Ausbildungen, die ein Semester dauern, bei anderen erhält man sie nach einer halbstündigen Lerneinheit.»

Wo existieren Micro-Credentials bereits?
«In der EU, aber auch in anderen Ländern, ist das Angebot von Micro-Credentials weit fortgeschritten. Das zeigen wir in einem Grundlagenbericht auf. Anbieter sind Universitäten, grössere Unternehmen, NGOs, spezialisierte Lernplattformen oder private Weiterbildungsanbieter. In der Schweiz hat beispielsweise HotellerieSuisse in der Coronazeit ein Angebot für seine Mitglieder bereitgestellt. Auf einer Lernplattform konnten sich Hotelangestellte – vom Bartender über den Empfang und das Putzpersonal bis zum Management – anhand von kurzen Videos zu unterschiedlichsten Themen weiterbilden und erhielten ein Micro-Credential. Es sind hierzulande aber vor allem Hochschulen, die sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzten. Einige Universitäten haben bereits Angebote, die man als Micro-Credentials bezeichnen könnte.»

Was sind die Unterschiede zu herkömmlichen Zertifikaten oder Kursbestätigungen?
«In der Schweiz wird der grösste Teil der Weiterbildungen ohne Zertifikat oder Nachweis abgeschlossen. Meist werden sie nur für längere Weiterbildungen ausgestellt. Micro-Credentials könnten hier eine Lücke schliessen. In Bezug auf die Ausstellung und den Informationsgehalt sollten sie den gleichen Anforderungen genügen wie die übrigen Bestätigungen. Der SVEB plädiert generell dafür, dass alle ausgestellten Bestätigungen transparenter gehalten sind und die gleichen Informationselemente enthalten.»

Wem würden Micro-Credentials etwas bringen?
«Eigentlich allen. Weiterbildungsinstitutionen könnten ihren Teilnehmenden mit dem standardisierten Qualifikationsnachweis einen Mehrwert bieten; bei den bislang bestehenden Mikro-Lerneinheiten gibt es bisher kaum Möglichkeiten, die Lernleistung zum Beispiel gegenüber Arbeitgebern nachzuweisen. Arbeitnehmende könnten mit den kleineren Lerneinheiten ihre Kompetenzen gezielter fördern und über Branchen, Unternehmen und Länder hinweg mobiler werden. Personen mit wenig formaler Bildung oder erschwertem Zugang zu Bildung – wie beispielsweise Langzeitarbeitslose, geflüchtete Personen oder Menschen mit Behinderung –, könnten dank Micro-Credentials den Anschluss an das Bildungssystem leichter finden. Arbeitgebern schliesslich könnte es dabei helfen, die Kompetenzen ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Mitarbeitenden besser einzuschätzen. Ein Nachweis, dass Micro-Credentials diese Potenziale auch einlösen können, steht allerdings noch aus. Der SVEB ist daher daran, das zu prüfen.»

Sind Arbeitgeber nicht schon von der heutigen Diplom- und Zertifikatsvielfalt überfordert?
«Damit das nicht geschieht, ist wie gesagt Transparenz zentral. Das gilt nicht nur bezüglich Micro-Credentials, sondern auch für die bereits existierenden Zertifikate.

Kann und soll alles Lernen in Micro-Credentials erfasst werden?
«Grundsätzlich könnten alle kleingliedrigen Bildungsangebote in ein Micro-Credential münden. Das würde es insbesondere Personen mit einer nicht klassischen Bildungsbiografie ermöglichen, ihre in der Praxis erworbenen Kompetenzen nachzuweisen. Wenn Micro-Credentials auch informelles Lernen nachweisen, könnten sie zum Beispiel im Validierungsverfahren eingesetzt werden. Wir könnten uns vorstellen, dass sie auch bei der Förderung der Grundkompetenzen eine interessante Rolle spielen könnten. Auf Systemebene stellt das aber hohe Anforderungen, wenn die Transparenz, Qualität und Wertigkeit der Zertifikate sichergestellt sein soll.

Was heisst das konkret?
«Es sind generelle Regelungen und Vorgehensweisen für die Ausstellung von Micro-Credentials – dies kann auch innerhalb von Branchen oder Bereichen sein – wichtig. Es muss geklärt sein, welche Lernformate zu einem solchen Zertifikat führen, wer sie ausstellt und wie, und welche Informationen sie enthalten müssen. Der SVEB möchte dabei eine koordinierende Rolle einnehmen.»

Wo sehen Sie die grössten Hürden zur Einführung von Micro-Credentials?
«Die erste Herausforderung ist, dass alle beteiligten Akteure – Weiterbildungsinstitutionen, Arbeitgeber, Lernende – das gleiche unter dem Begriff Micro-Credentials verstehen. Das ist unabdingbar, damit ein System funktioniert, wie auch immer es dann aussehen würde. Wichtig ist, dass man das nicht einfach von oben aufdrängt, sondern mit allen betroffenen Akteuren aushandelt.»

Was wird der SVEB bei diesem Thema weiter unternehmen?
«In unserem Grundlagenbericht haben wir Informationen und Best-Practice-Beispiele zusammengetragen und analysiert – im internationalen Kontext und in der Schweiz. Der Bericht richtet sich insbesondere an interessierte Weiterbildungsinstitutionen und Fachleute. Wir verfolgen das Thema weiter und werden dieses Jahr vertieft prüfen, ob Micro-Credentials in der schweizerischen Weiterbildung umsetzbar sind. Dazu gehören insbesondere Nutzenanalysen bei Individuen, Weiterbildungsanbietern und Akteuren aus dem Arbeitsmarkt.»

Das Interview wurde am 15. April 2023 in ALPHA, einem integrierten Bestandteil von Tages-Anzeiger und SonntagsZeitung, publiziert. Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung.

SVEB-Aktivitäten zu Micro-Credentials

Der SVEB hat anfangs 2023 ein Grundlagenpapier zu aktuellen Entwicklungen in der Schweiz und auf internationaler Ebene publiziert. Im Rahmen eines Folgeprojekts prüfen wir nun den Nutzen und die Umsetzbarkeit von Micro-Credentials im non-formalen Bereich in der Schweiz.

Foto von Matthias Aebischer: SP Schweiz