Analog und lokal als Wettbewerbsvorteil: Wie digital sollen Weiterbildungsangebote nach Corona sein?


Der strategische Vertiefungsworkshop des SVEB vom 21. September 2021 bot Weiterbildungsanbietern den Raum, neue Unterrichtsformate zu reflektieren. Pius Knüsel berichtet im Interview über seine digitalen Unterrichtserfahrungen während Corona an der Volkshochschule und im Kulturmanagement.

Corona hat auch in der Weiterbildung Kategorien wie Zeit und Ort durcheinandergebracht. Wie haben Sie dies erlebt?
Pius Knüsel: Insbesondere in der Erwachsenenbildung älterer Menschen hätte niemand damit gerechnet, dass sie sich auf «ihre alten Tage» hin noch mit Tools wie Zoom auseinandersetzen müssen. Bei der Volkshochschule Zürich sind wir quasi über Nacht online gegangen, als der zweite Lockdown kam. Wir haben ein paar Dutzend Zoom-Lizenzen gekauft. Dann haben wir allen geschrieben, dass sie ab Montag nicht mehr ins Schulzimmer kommen sollen, weil das Schulzimmer neu bei jedem zu Hause ist. Das hat natürlich zu einem mittleren Chaos geführt…

Haben die Beteiligten diese Herausforderung angenommen?
Rund ein Viertel wollte sich nicht darauf einlassen. Doch drei Viertel meisterten die Klippe, von zu Hause aus Kurse zu besuchen. Bei den Dozierenden war es ähnlich, die wenigsten hatten Online-Lehrerfahrung. Man ist einfach gemeinsam ins Wasser gesprungen. Es machte sich sogar eine Art Euphorie breit: Auch wir schaffen das, die digitalen Latecomer. Weil Teilnehmende wie auch Lehrende unerfahren waren, stellte dies für beide Seiten eine ziemlich interessante Erfahrung dar. – Es hat gut funktioniert für eine Übergangszeit. Aber ich glaube nicht, dass man so hätte weitermachen können.

Wie sieht es bei anderen Anbietern aus?
Aus Diskussionen mit anderen Volkshochschulen kann ich sagen, dass ein Grossteil der Teilnehmenden die Online-Erfahrung interessant fand, auch im Zeichen der gesundheitlichen Risiken. Aber ein viel grösserer Anteil möchte nun wieder zurückzukehren. Das trauen sich aber noch nicht alle. Und es gibt jene Menschen, welche die digitale Erfahrung so toll fanden, dass sie diese auch weiterhin machen möchten. Aus der Anbieterperspektive gedacht, sind das nun zwei unterschiedliche Märkte: diejenigen, die zurück in die Präsenz möchten und diejenigen, die beim Online-Unterricht bleiben möchten.

Bleibt Weiterbildung eher online?
Das dachten wir eine Zeit lang, aber das ist ganz klar nicht der Fall. Die Schwierigkeit für alle Anbieter ist es nun, den richtigen Mix zu finden: Wie gross ist der Online-Markt für diejenigen, die Online-Unterricht absolvieren möchten, selbst wenn dieselben oder ähnliche Angebote analog vorhanden sind? Aber die meisten Anbieter sind mit dem allergrössten Teil des Angebots zum Präsenzmodus zurückgekehrt. Und auch die Universitäten gehen alle wieder zurück in den Präsenzmodus. Das hat mit den Nachteilen des Online-Lernens zu tun.

Welches sind denn die Defizite des Online-Unterrichtes?
Das Analoge ist, technisch gesehen, eine reichhaltigere Information. Man sieht zwar ein Gesicht und hört eine Stimme. Doch die Erfahrung des Analogen oder des Präsenzunterrichts beinhaltet eine Anwesenheit mit allen fünf Sinnen. Präsenzlernen heisst ja, mit dem Körper zu lernen. Und zwar so, dass es die anderen anwesenden Personen mitbekommen. Man nimmt, gewollt oder ungewollt, Anteil an Lust und Frust der anderen Anwesenden. Das ist ein sehr starker Motivationsfaktor.
Im Präsenzmodus erhalten Sie als Dozierender Signale, bevor sie ausgesprochen werden. Dadurch entsteht viel rascher eine Atmosphäre im Raum. Sie merken schneller, wie hoch die Spannung und Aufmerksamkeit ist. Sie können auf Teilnehmende eingehen, bevor diese sich melden – oder nicht, aus Scheu.
Der wichtigste Teil des analogen Konzepts ist, dass Lernen ein sozialer Akt ist. Lernen mobilisiert nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Körper. Eine vor Ort geteilte Lernerfahrung ist eine reichhaltigere Erfahrung.

Lernmotivation und Lerntiefe verlieren sich also rascher im Onlinebereich…
Ja, diese Erfahrung mache ich beim Online-Unterricht an Fachhochschulen, wenn mich rund 30 verschiedene Gesichter aus kleinen Fenstern ansehen. Als Kursleiter weiss ich nicht, was die einzelnen für einen Puls haben. Ich merke aber, dass sie sich rascher «ausklinken» als im Präsenzmodus. Das gelingt, weil es keine tragende Atmosphäre gibt, sondern nur bilaterale Beziehungen zwischen mir und den Teilnehmenden und unter ihnen.

Welche Themen oder Inhalte können vor Ort besser transportiert werden als online?
Für das Analoge eignen sich Themen, die Bezug nehmen zur unmittelbaren Lebensmöglichkeit, zur Lokalität. Die muss nicht dort sein, wo man sich gerade befindet. Es geht um Dinge, die mit Anschaulichkeit verbunden sind und die wieder körperliche Erfahrungen ermöglichen. Nehmen wir das Sprachenlernen: Man kann zwar die Syntax erlernen, grammatikalische Regeln und Vokabular. Aber eine Sprache muss angewendet werden und benötigt dafür einen sozialen Kontext und einen Ort. Sprachunterricht sowie alle kulturellen und geisteswissenschaftlichen Themen eignen sich darum für lokalen, analogen Unterricht. Ein Referat hingegen kann gut online stattfinden.

Das Interaktive funktioniert also besser in der Präsenz.
An einem besonderen Ort zu lernen, macht einfach mehr Spass als in einem Norm-Schulzimmer oder online. Online ist die Lernmotivation immer sehr stark abhängig vom Kursleiter und dessen Energie. Letzterer muss online viel mehr «schieben». Nur analog kommt die Persönlichkeit richtig zur Geltung. Und wenn der Ort selbst noch eine Persönlichkeit hat, dann steigert das den Lerneffekt.

Spielt das Digitale im Analogen und Lokalen eine Rolle?
Ich kann mir Unterrichtsformen vorstellen, die analog, lokal und digital kombinieren. Beim Volkshochschulverband suchen wir nach Wechseln, nach dynamischen Formaten, die einen digitalen Unterricht im Lokalen analog ermöglichen. Es gibt eine Menge digitaler Tools, die nicht im Widerspruch zum analogen Unterricht stehen – moderne Instrumente, die neue Arbeitsformen ermöglichen, aber im Präsenzmodus mit starken lokalen Bezügen eingesetzt werden können.

Wie sieht der Weiterbildungsmarkt der Zukunft aus?
Es wird künftig ein Segment der Weiterbildung geben, das auf Distanz aufbaut. Dieser Anteil wird aber deutlich kleiner sein, als man während des Lockdowns gedacht hatte. Volkshochschulen gehen zum Beispiel davon aus, dass 10% ihres Angebots online sein wird. Es gibt durchaus Teilnehmende, die den Komfort von Online höher gewichten als den Frust. So gesehen wird ein Grossteil zurückgehen ins Vertraute, aber das Vertraute wird nicht mehr das Alte sein – auf Grund der gemachten Distanzerfahrung und der neuen Welt, die aufgegangen ist durch die digitalen Instrumente. Hier gibt es bestimmt viel Neues zu entwickeln.

Welche Empfehlungen geben Sie Weiterbildungsanbietern?

Digital ja, aber eingebettet in den analogen oder lokalen Kontext: Online oder digital, im Sinne von Distanzlernen, löst Raumprobleme, technische Probleme, kostet weniger. Aber man handelt sich neue Probleme ein mit Distance Learning. Es benötigt sehr viel mehr Vorbereitungszeit und Energie seitens Kursleitung, man verliert die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden rascher. Bei anspruchsvollem Stoff halten es die Teilnehmenden in einem Schulzimmer länger aus, gerade darum, weil es die anderen Anwesenden auch aushalten wollen. Das kommt dem Lernen und dem Lernerfolg zugute, besonders bei Unterrichtsserien.
Beim analogen Modus gibt es für den Kursleiter und die Teilnehmenden eine «Pufferzeit», um sich mental vorzubereiten, z. B. lässt man während der Anfahrt im ÖV den Geist schweifen. Und ich glaube, das ist für ein modernes Verständnis von Lernen wichtig, dass Lernen nicht etwas ist, das man an- und ausknipsen kann wie das Licht, sondern es muss eine Lernbereitschaft entstehen. Es braucht diese Eingangs- und Ausgangszeit. Diese kann man online zwar rekonstruieren, aber nur partiell.

Gut überlegen, welchen Modus man wählt, in Abhängigkeit vom Lernziel, aber auch in Abhängigkeit davon, was die Lernmotivation ist: Man kann online vergleichsweise rasch Lernangebote realisieren. Man vergibt sich aber die Vertiefung von Lernerfahrung, die im sozialen Aspekt von Präsenzlernen liegt. Es gibt sicher Themen, Fächer, Kompetenzen, die man rein digital gut vermitteln kann. Welche das sind, muss jeder Anbieter und jede Kursleitung selbst entscheiden.

Lokal heisst nicht nur einfach, einen Ort zu haben, wo man hingehen kann, um eine gemeinsame Lernerfahrung zu machen, sondern der Ort selbst muss Qualität haben: Der Ort ist besser, wenn er selbst auch Übergangszonen besitzt, zum Beispiel einen Vorraum, in dem man warten und einen Kaffee trinken, sich zusammen mit andern darauf vorbereiten kann, was kommt. Und der Präsenzmodus ist für «weiche» Inhalte, bei denen eine gemeinsame Interpretation von Inhalten oder Texten gefordert wird, viel geeigneter als online. Gemeinsam etwas nicht zu verstehen, ist eine Erfahrung, die im Analogen stärker «einfährt».

Anreicherung der Lernsituation damit, was ich Persönlichkeit nenne – von der Person her, aber auch von der Situation her. Anreicherung auch auf den weiteren sinnlichen Ebenen, wie Bewegung, zum Beispiel mit den Möglichkeiten einer Exkursion: Das Analoge ist nicht einfach ein Modus, der das Digitale ausschliesst, sondern man kann das Digitale durchaus einbauen. Gegen diese Form der digitalen Erfahrung haben auch die altmodischsten Schüler nichts einzuwenden. Denn sie möchten ja nicht einfach keine Herausforderungen, sondern sie möchten die Herausforderungen in einem geschützten Rahmen. Sie benötigen Assistenz und diese funktioniert nur vor Ort. Wenn man einen persönlichkeitsbildenden Unterricht anstrebt, der nicht nur kompetenzsteigernd ist, dann muss man mehr machen, als nur zu Hause am PC zu sitzen, sondern Tools einsetzen, die man sinnvoll vor Ort nutzen kann.

Interview: Bettina Whitmore

Zur Person:
Pius Knüsel ist Präsident des Verbands der Schweizerischen Volkshochschulen VSV und Vorstandsmitglied des SVEB. Er war bis Mitte 2021 acht Jahre Direktor der Volkshochschule Zürich VHSZH. Zuvor leitete er Pro Helvetia, das Kultursponsoring der Credit Suisse und den Zürcher Jazzclub Moods.

Bild: «Eine vor Ort geteilte Lernerfahrung ist eine reichhaltigere Lernerfahrung», sagt Pius Knüsel. (Bild: VHSZH)