Werte- und demografischer Wandel, technologischer Fortschritt und Fachkräftemangel: Mehrere Faktoren wühlen die Arbeitswelt auf – und begünstigen anstelle von abgetretenen Trampelpfaden unkonventionelle und mutige Wege. Die Weiterbildung gewinnt vor diesem Hintergrund stark an Bedeutung.
Reto Hunziker
«Arbeitszeiten ändern sich», warb das deutsche Handelsblatt unlängst für neues Denken. Und tatsächlich scheint sich in der Arbeitswelt in den letzten Jahren so viel zu tun wie seit Jahrzenten nicht mehr. Befeuert von der Pandemie haben sich Home Office und Videokonferenzen in überraschend kurzer Zeit etabliert. Der Fachkräftemangel hat den Arbeitgebermarkt zunehmend in einen Arbeitnehmermarkt gewandelt. Und der technologische Fortschritt steuert seinen Teil zur Disruption der Arbeitswelt bei, wie man sie jahrzehntelang kannte.
Insofern muss arbeiten tatsächlich «neu gedacht» werden. Denn ein schnelllebiger Arbeitsalltag verlangt eine ausgeprägte Anpassungsfähigkeit. Ein Arbeitnehmermarkt gewährleistet viele Optionen. Das Arbeiten über das Pensionsalter hinaus sowie lebenslanges Lernen erfordern neue Modelle. «Ich kann mir gut vorstellen, dass wir aus verschiedenen Gründen die Lebensarbeitszeit werden verlängern müssen», sagt etwa HR-Koryphäe Matthias Mölleney, «dann wird umso klarer, dass es nicht mehr der Königsweg sein kann, nach der Schule eine Lehre zu machen und diesen Beruf dann bis zur Pensionierung auszuüben.»
«Attitude» statt «Skills»
Neue Wege werden sich also etablieren. Umschulungen dürften sich mehren, Quereinstiege normaler werden. «Hire for attitude, train for skills», heisst es ja schon eine Weile – es ist anzunehmen, dass sich der Kampf um Talente noch verschärfen wird – und damit auch diese Maxime an Gültigkeit gewinnt. Wenn die Hard Skills nämlich aufgrund des technologischen Fortschritts immer schneller obsolet werden, sind andere Eigenschaften stärker gefragt. Eigenschaften, die mit gezielter Weiterbildung gefördert werden können.
Gemäss der Eurobarometer-Umfrage der Europäischen Kommission, bei der 2023 europaweit fast 13’000 Telefoninterviews geführt wurden, ist es für mehr als drei Viertel der Unternehmen sehr oder mässig schwierig, Arbeitskräfte mit den richtigen Kompetenzen zu finden. 68 Prozent der Befragten glauben, dass Soft Skills in Zukunft wichtiger werden. Im Vergleich dazu: Bei den Digital Skills sind es 62 Prozent, bei den Hard Skills 47 Prozent.
Quereinsteigende gesucht
Gerät eine Branche unter Druck, wird sie offener für Quereinstiege: Letztes Jahr suchte die Stadtpolizei Zürich mit Slogans wie «heute Gärtnerin, morgen Polizistin» explizit nach Quereinsteigenden. Auch an Schulen kommen Menschen ohne Diplom zum Einsatz, da es an Lehrpersonal fehlt. Und in ihrer aktuellen Kampagne sprechen die Verkehrsbetriebe Zürich VBZ gezielt Quereinsteigende über 45 Jahren an. Auch der Schweizerische Verband für Weiterbildung SVEB lanciert demnächst eine Kampagne, um Sprachkursleiterinnen und Sprachkursleiter im Integrationsbereich zu finden – Quereinsteigende ausdrücklich erwünscht.
«Quereinstiege werden durch den Fachkräftemangel sicher erleichtert», sagt Arbeitsmarktsoziologin Helen Buchs. Denn die Unternehmen seien eher bereit, solche zuzulassen und zu fördern. Dies gelte für Personen mit einer Berufslehre oder einem Hochschulabschluss, aber auch für Personen ohne nachobligatorische Ausbildung. «Die Unternehmen werden kreativer bei der Personalrekrutierung, kommen von einem perfekten Matching ab und prüfen auch Dossiers mit nicht ganz gradlinig verlaufenden Berufskarrieren», so Buchs.
Dies bestätigt auch Marco Riso, Büroleiter beim Personalvermittler Randstad, gegenüber der NZZ: Quereinsteigende hätten heute mehr Chancen als noch vor ein paar Jahren, die Arbeitgeber seien flexibler geworden. Und sie werden noch flexibler werden müssen, da die Transformationsprozesse in vollem Gange sind. Zero Gap – sprich: kein Spielraum zwischen den Stellenanforderungen und dem, was die Bewerberin oder der Bewerber mitbringt – wird sich niemand mehr leisten können.
Gen Z machts vor
Auch hat die Pandemie viele dazu bewogen, ihre Lebensweise respektive ihre Beziehung zur Arbeit zu überdenken. Gleichzeitig färbt die Entschiedenheit, wie viele Vertreterinnen und Vertreter der Generation Z ihre Wünsche und Erwartungen einfordern auch auf andere Generationen ab. Ebenso die Ansprüche an eine gesunde Work-Life-Balance.
Zwar kam in einer im vergangenen Oktober veröffentlichten Umfrage der Firma Von Rundstedt unter 1907 Personalverantwortlichen heraus, dass Quereinsteigende und ältere Menschen in der Schweiz weiterhin weniger gefragt seien. Doch es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis hier ein Umdenken stattfindet. Zumal schon nur die digitale Transformation ein hohes Mass an Flexibilität erfordert, allein der Einsatz von künstlicher Intelligenz dürfte die Mobilität zwischen Berufsprofilen und Branchen erhöhen.
Gezielter und informeller lernen
Klar auch, dass mit zunehmender Flexibilität im Arbeitsmarkt sich auch die Aus- und Weiterbildung anpassen muss. Gerade die Weiterbildung hat hier schon einige Schritte unternommen. So werden etwa mit sogenannten Micro-Credentials kurze, informelle Lerneinheiten ausgewiesen. Damit lassen sich Fähigkeiten gezielter und punktueller im Arbeitsalltag vermitteln – und belegen. Dies ist insbesondere eine Chance für Menschen ohne Berufsabschuss oder mit geringen Qualifikationen. Der SVEB prüft derzeit mit zentralen Akteuren der Weiterbildung, wie ein nationales Vorgehen zur Umsetzung von Micro Credentials aussehen könnte.
Das (lebenslange) Lernen on the Job wird wohl bald normal sein. Und somit auch Zick-Zack-Lebensläufe, Quereinstiege und damit einhergehend punktuelle, informelle und gezielte Weiterbildung. Und wenn ein Berufswechsel gar nicht mehr so quer ist, erübrigt sich auch diese Unterscheidung.
Dieser Artikel erschien am 16. März in der Zeitungsbeilage «Fokus Next Step».